Die Stille von Auschwitz

Millionen durchströmen den ikonischen Eingang des Konzentrationslagers in Birkenwald. Doch anders als vor rund 75 Jahren, gehen sie auf eigenen Beinen auch wieder durch den gleichen Ausgang hinaus, und nicht durch die Kamine der Krematorien.

Doch die sind nicht mehr zu sehen. Die Nazis haben sie bekanntlich in den letzten Tagen zerstört. Auch sonst ist nicht mehr viel zu sehen – von dem unfassbaren Leiden. Im Gegenteil: Wer heute Auschwitz besucht, findet eine friedliche Szenerie auf, eine Gedenkstätte voller Ruhe. Kann man sagen «würdige» Gedenkstätte?

Die Touristen spazieren etwas hilflos durch die Weite, wie durch einen riesen Park. Mit den Mobiltelefonen fotografieren sie den Eingang, den sie sicherlich aus Filmen und Dokumentarfilmen kennen. Und dann versuchen sie mit ihren Smartphones die unglaubliche Weite einzufangen und den Moment festzuhalten. Sie machen Selfies. Der Massentourismus ist angekommen, von Krakau her mit Bussen. Sie tragen Druck-T-Shirts, Sandalen. In Schulklassen: ein gelangweiltes Kind. Es spielt lieber auf dem Handy, und fragt sich: warum muss ich da sein? Ja, warum eigentlich? Warum soll man Birkenau besuchen? Was lernt man hier schon?

In einer Baracke, die für 51 Pferde gebaut wurde, waren mindesten 400 Menschen eingepfercht, so der Guide. Und diese Baracken reihen sich. Scheinbar endlos. Ich versuch mir die brachliegende Fläche vorzustellen, wie es gewesen sein muss, organisiert zwischen Stacheldrähten, wie Tiere auf Weiden, nur mit Menschen, und viel enger. Ich stelle mir patrouillierende Nazis vor und die Krematorien am Waldrand aus dessen Kaminen Rauch kommt. «Wissen sie wie verbrannte Menschen riechen?» hat mich der Guide gefragt, «die ankommenden Juden auch nicht». Ich sammle meine ganze Vorstellungskraft, um adequate Bilder der Vergangenheit zu erzeugen und scheitere kläglich. Ich höre nur die Vögel pfeifen. Ein paar Regentropfen rieseln zu Boden. Es riecht nach Wiese. Es ist friedlich.

Ein paar Stunden vorher in Auschwitz: Eigentlich sind es ästhetisch ganz schöne Häuser, geht es mir durch den Kopf. Eigentlich sind sie ja schön aufgestellt. Im Zwischenraum wächst ein gepflegter Rasen. Eigentlich ist auch das Innere recht ansprechend. Nur, ich weiss natürlich wo ich bin. Ich kenne die Häuser schon lange, obwohl ich das erste mal da bin: die Wege, die Fenster, das Tor, der Stacheldraht mit dem gebogenen Ende, doppelt geführt, befestigt an Porzellanaufhängung, isoliert, um unter Hochspannung jedem Ausbruchsversuch mit dem Leben zum bestraffen.

Und dann die verdeckten Fenster zu den Kellern. Es schaudert mich, denn ich weiss wo ich bin. «Hier wurden Leute gefoltert», schaudern mich erneut meine Gedanken, «als Strafe, oder als pseudomedizinische Untersuchungen von Mengele». Die Vorstellung, dass das hier geschah, in diesen anmutigen Häusern ist grässlich. Das äussere ist purer Schein, er vermittelt nichts davon. Wenn man nicht schon bescheid weiss, erliegt man der scheinbaren Idylle. Und genau dies ist die Gefahr der Ruinen. Man bekommt die Illusion etwas zu erfahren, «alles» zu sehen, die Illusion Bescheid zu wissen.

Auschwitz heute strahlt eine Ruhe aus. Fast schon eine Würde. Birkenau wirkt friedlich. Die Anreise offenbart erstmal nichts Besonderes: ein kleiner Bahnhof, eine langeweiliges Dorf, ein Parkplatz wie jeder andere auch. Doch beim Durchgehen durch die Sicherheitsschleuse, und sobald man erfahrt, dass man die Besuchsstätte nur mit Guide besuchen darf, wird einem klar, dass dieser Ort ungewöhnlich ist. Dieser führt dann durch die Häuser. Der Guide erklärt. Informationen prasseln auf uns Besucher ein. Irgendwie weiss man vorher schon alles, und doch versteht man nichts. Der Guide hilft kaum. Informationen, der falsche Zugang.

Ich kenne die Szenerie, ich kenne die Wege von Bildern und Dokumentarfilmen. Sie wecken Horrobilder. Realer historischer Horror, keine Fiktion. Die Schwere kommt von innen, nicht von der Gedenkstätte. Diese vermag mir das nicht vermitteln. Die Führung durch die Gedenkstätte versucht Zeugnis zu geben. Relikte werden gezeigt, Räume voll mit Schuhen, Koffern, Haufenweise Haare, um das schiere Ausmass zu vermitteln. Groteske Menge, groteske Masslosigkeit, aber ohne groteskes Elend. Bilder von Menschen, ein Verbrecher «Mugshot»–Bild, fotografiert von den Nazis. Ihre Gesichter sprechen, aber nicht vom Elend, nicht vom Horror. Sie wurden beim Eintritt aufgenommen, bevor sie im Lager leben mussten und man sie in den Öfen umbrachte. Es gibt keine bewegten Bilder in Auschwitz und kaum Bilder in Birkenau, keine Schockmomente wie man sie aus den Dokumentarfilmen kennt. Keine «Muselmann» wie die bis aufs Skellet abgemagerten Häftlinge an der Grenze zum Tod genannt wurden (Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, 2003: 37-47). Will man die Besuchenden schonen? Hat man Angst sie zu verstören? Will man den Besuchenden die rohe Gewalt, das unfassbare Leid, die unendliche Gefühlslosigkeit der Wärter, nicht zumuten? Oder fürchtet man den Vorwurf der «Instrumentalisierung der Gewalt», dem Geschäft mit dem Horror? Weidmann spricht im Zusammenhang von Bildern des Holocaust von «pornographischer Ästhetik». Ist man darum so rücksichtsvoll mit dem Besucher? Hier ist das grosse Dilemma der Holocaust Didaktik: Wie soll man über ein Ereignis aufklären, das so abgründig ist, dass selbst die Dokumentation traumatisieren? Soll man aus Rücksicht auf die Besucher das Grauen abschwächen, und damit den Holocaust verharmlosen, oder sollte der Holocaust nicht doch «alles zeigen» damit wir wissen was «auf dem Spiel steht» auch wenn es uns verstört? Ich denke man sollte, zumindest den meisten Menschen, mehr «Realität» zumuten, wenn dies gut eingebettet und kontextualisiert würde.

Der Holocaust ist ein derart heisses Eisen, dass man sich aufs Gedenken konzentriert. Alle gedenken, und das zurecht. Das Problem ist nur, dass man aus Gedenken nicht viel lernt. Denn Gedenkstätten zeigen nur die Gegenwart. Die Vergangenheit ist nicht präsent! Die verfallenen Ruinen zeugen davon, dass es vorbei ist. Die Gefahr ist, dass die Besuchenden andächtig, mit einem diffusen Gefühl einer Ungeheuerlichkeit nach Hause gehen, ohne zu lernen was den genau in Auschwitz geschah, ohne bohrende Fragen zu evozieren, wie das geschehen konnte, und ob die Ereignisse nicht doch noch relevant sind für uns, und nicht einfach zwar grausames, aber abgeschlossenes Kapitel unserer Geschichte. Ist es nicht so, dass wir genau dies am liebsten hätten, dass wir die Vorkommnisse verdrängen, damit gar nichts zu tun haben. Wir glauben lieber, dass die Welt heute eine ganz andere sei. Die neuere Geschichte lehrt uns leider etwas anderes.

Um zu verstehen müssen wir die Bürde auf uns nehmen und die alten Dokumentarfilme sehen, etwa «Nuit et Brouillar» (Nacht und Nebel, von Alain Resnais, 1956), Claude Lanzmanns 9½ Stunden Dokumentation «Shoah» (1985), die überlebende Opfer wie Täter sprechen lassen, und wer die Bilder verdauen und einordnen kann, die Newsreels der amerikanischen Befreiung «Death Mills» (Todesmühlen, 1945). Hier begegnen wir Szenerien die unsere Generation nur aus Horror- Katastrophen- und Kriegsfilmen kennen,  mit dem Unterschied, dass es keine Fiktion ist. Und dieser Unterschied ist kolossal, er verstört und belastet. Wir sollten Art Spiegelmans Comic «Maus» lesen, vielleicht auch seine Kommentare in «Metamaus», der völlig unverständlich seit kurzem in einigen amerikanischen Staaten aus den Schulbibliotheken genommen wird. Wir sollten uns mit den Mechanismen der «Dehumanisierung» befassen, mit den Funktionsweisen der Traumverarbeitung und dessen Weitergabe an die nächsten Generationen, der Organisation und den Verschleierungstaktiken des systematischen Völkermordes, der Frage wie die hundertrausenden von unsichtbarem Helfer und Komplizen, die angeblich von nichts wussten, die Jahre danach schlafen konnten, von der «Banalität des Bösen», und davon dass die meisten Deutschen denken, dass ihre Verwandten zum Wiederstand gehörten. Wir sollten uns hüten, den Holocaust als «historisches» Ereignis abzukapseln, und uns überlegen, wie es wieder und wieder zu Völkermord kommen konnte, ob sich ähnliche Dynamiken und Vorstufen nicht doch in Teilen in die heutige Zeit umschreiben können, und wo moderne, oder besser postmoderne «Eichmänner» heute arbeiten, ob es nicht neue Formen der «Dehumanisierung» gibt, durch digitale Entfremdung in die Peripherie unserer Wahrnehmung gedrängt.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte nicht sagen, dass wir nichts aus der Geschichte gelernt haben, dass wir nicht Mechanismen in unsere Demokratie eingebaut haben, oder sensibilisiert worden sind. Aber: wir beginnen den Holocaust in seiner Komplexität zu verkürzen, ihn als schreckliche Havarie der frühen Moderne zu marginalisieren. Nach dem 2. Weltkrieg waren die Hauptziel stabile Demokratien zu etablieren, und nie mehr Krieg in Europa zu haben, was erreicht wurde. Aber nicht alle Fragen sind geklärt. Wir dürfen die Katastrophe Holocaust nicht als abgeschlossen verstehen, denn in der Ferne gehen Grausamkeiten weiter. Ich wünsche, wir könnten behaupten, dass diese nicht in unserem Namen geschehen, und wir nicht wieder sagen, werden wir haben davon doch nichts gewusst.

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