Die vergessene Demokratie

Vielleicht haben auch Sie schon einmal versucht einen Nichtwähler zu überzeugen,  von seinem Wahl- und Stimmrecht Gebrauch zu machen. Wahrscheinlich haben Sie damit argumentiert, dass das Stimmen und Wählen für eine funktionierende Gesellschaft essentiell ist, und dass ohne die Demokratie nicht funktioniert. Vielleicht haben Sie am Ende auf verlorenem Posten gekämpft, als Sie versucht haben zu erklärten, weshalb es auf jede einzelne Stimme ankommt, auch wenn sie unter den tausenden anderen Stimmen zu verschwinden scheint. Vielleicht haben Sie auch gemerkt, wie schwierig es ist zu erklären, dass die Demokratie nicht bloss ein theoretisches Konstrukt ist, sondern ein sehr lebensnaher Vorgang, der tief in unser tägliches Leben dringt. Schliesslich sind Politik und die Behörden eng an den Willen der Bevölkerung gebunden. In zahlreichen Entscheidungen bestimmen wir direkt mit, und können mit einer Art Veto die Entscheidungsträger korrigieren.

Ja, ich bin stolz auf unsere politische Kultur der direkten Demokratie! Es gibt aber eine weitere Demokratie, und zwar eine, die weitgehend vergessen wird! Diese vergessene Demokratie durchdringt fast jeden Lebensaspekt und ist zu allem noch viel direkter: Gute Ideen werden durch Zustimmung honoriert und direkt monetär unterstützt, die schlechten Ideen werden mit Verlust abgestraft. Die Wahl hat also einen garantierten Einfluss. In dieser vergessenen Demokratie wird nicht nur ein paarmal jährlich abgestimmt, sondern mehrmals täglich. Man wird sogar zum Wählen gezwungen! In dieser Demokratie kann man nicht einfach nicht-wählen, sonst stände man ohne Kleider da. Man hätte weder Essen, noch Dach über dem Kopf. Man müsste wie Diogenes barfuss über die Gassen gehen und in einem Fass leben – im Falle von Diogenes war es jedoch eine bewusste Entscheidung. Sie haben es vielleicht gemerkt, es geht darum, die tägliche Wahl für oder gegen ein bestimmtes Gut als einen Mechanismus ähnlich der Demokratie zu verstehen.

Die Idee ist folgende: Immer dann, wenn wir zwischen zwei oder mehreren Optionen wählen können, ist jeder Entscheid für ein Gut eine Art Wahl, ähnlich wie bei einer politischen Wahl oder Abstimmung. Mit unseren täglichen Entscheidungen stimmen wir für gewisse Werte und Ideen, und damit gegen andere, die wir gewissermassen „boykottieren“. Die Voraussetzungen für diesen Vergleich sind a) eine freie Wahl (welche in der freien Marktwirtschaft eigentlich garantiert sein sollte) b) das Vorhandensein von mindestens zwei Optionen und c) Informationen über die Hintergründe dieser Handlungsoptionen (analog zum Abstimmungsbüchlein, und die Berichterstattung zur Wahl/Abstimmung).

Ich höre Sie seufzen: „Das hat doch nichts mit Demokratie zu tun!“ Der Einwand ist natürlich berechtigt. Eine klassische Wahl im politischen Sinne und die Wahl zwischen Kaufoptionen sind in verschiedener Hinsicht zwei unterschiedliche Wahlen. Der Vergleich hinkt also in vielfacher Hinsicht. In der Demokratie hat jede und jeder unbeachtet des sozialen Standes oder der finanziellen Mittel das Recht genau eine Stimme zu geben. Die Politik ist ein Gemeinschaftsprodukt, ein Ort der Übereinkunft, wo die gleichen Grundrechte jeder und jedem gewährleistet sein muss. Nicht so in der Marktwirtschaft: wer viel Geld hat, hat auch mehr zu sagen, und wer viel Profit macht, bekommt damit (wirtschaftlich) Recht – ein der Demokratie wiedersprechendes Prinzip! Immerhin steht das (politisch geschaffene) juristische Recht in diesem Sinne über dem wirtschaftlichen Gesetz.

In diesem Vergleich der Produktewahl als politische Wahl geht es nicht um eine umfassende adäquate Entsprechung (kein Vergleich und kein Bild entspricht dem Original), sondern darum einen vergessenen Aspekt freizulegen: In der politischen Wahl bringen wir durch das bewusste Wählen unsere inneren Überzeugungen zum Ausdruck. Hier stehen wir für oder gegen etwas ein und sind vorbereitet diese Meinung in einer Diskussion am Stammtisch oder mit Freunden zu verteidigen. Wir kennen die Hintergründe einer Abstimmung und sehen die Zusammenhänge und Sachlage und entscheiden uns bewusst für oder gegen die Vorlage. Treffen wir aber Kaufentscheidungen, tritt der Grund, warum wir gerade dieses Produkt wählen, total in den Hintergrund. Wir können ohne Widerspruch uns für ein Produkt entscheiden und dennoch ganz fundamental die Produktionshintergründe ablehnen. Ich habe von vielen Leute gehört, dass ihre Kaufentscheidungen grundsätzlich nichts mit Politik zu tun haben. Nicht selten also wird ein Produkt gewählt, dessen Hintergründe nicht nur unbekannt sind, sondern häufig im Widerspruch zu unseren politischen Einstellungen stehen. Dies ist im wörtlichen Sinne verantwortungslos. Häufig lehnen wir es kategorisch ab, für ein gekauftes Produkt die Verantwortung zu übernehmen. Dabei unterschätzen wir systematisch die reale Wirkung unserer Entscheidung und verkennen unsere Verantwortung, die wir mit unserem Kauf eigentlich haben.

Eine tägliche Kaufentscheidung ist zum Beispiel der Kauf eines Joghurts im Supermarkt. Ist etwa ein gekauftes Joghurt nicht ein nachträglicher Auftrag das Joghurt für mich zu produzieren? Gebe ich damit nicht einen Auftrag, dass dieses Joghurt weiterhin produziert werden soll? Erhält die Produktion eines Joghurts nicht meine („politische“) Zustimmung, indem ich es kaufe?

Mit dem Kauf allermöglichen Produkte finanzieren wir verstreut über viele Betriebe die Menschen, Konzern und Verbände, welche in die Produktion involviert sind. Mit jedem Franken entscheiden wir mit, welche Produktion sich finanziell auszahlt und welche nicht. Mit jedem Franken, den wir ausgeben, zahlen wir eine schon gemachte Investition zurück und sichern die Fortführung der Produktion. Damit übernehmen wir einen Teil der Verantwortung für dieses Produkt. Wie mit der Stimme bei einer politischen Partei zeigen wir mit unserem Geld, dass wir dieses oder jenes Produkt gutheissen.

Wenn ich also dieses Joghurt nicht kaufen, wird in Zukunft theoretisch genau eines weniger hergestellt. Natürlich entscheidet nicht jedes einzelne Joghurt über Gut und Böse, aber genau hier verhält es sich wie mit der Demokratie. Jede Stimme ist letztendlich wichtig, und jede Wahl macht einen Unterschied! Stellen Sie sich vor, wie viele Leute von ihren gesamten Konsumausgaben eines Jahres leben können. Mit ihrem schweizer Lohn finanzieren sie insgesamt wahrscheinlich eine Mehrzahl an Menschen, weil viele Produkte aus dem Ausland kommen, wo die Löhne um ein Vielfaches tiefer sind. Ihr Geld hat also durchaus Gewicht. Rechnen Sie einmal aus, wieviel Geld Sie jährlich ihrem lokalen Supermarkt zukommen lassen. Dieses Geld macht durchaus einen Unterschied. Wie heisst es doch: Geld befiehlt. Wird etwas nicht gekauft, wird es nicht mehr hergestellt. Die Auswirkungen sind sehr direkt, viel direkter als in der Demokratie, nur sieht man es nicht. Die Wahlresultate werden über alle Medien publiziert, die Resultate ihrer Kaufentscheidungen aber sind unsichtbar.

Und ja: natürlich haben wir die Wahl. Zugegeben, bei gewissen Dingen hat man (wie manchmal auch bei Politikern) nur die Auswahl zwischen Pest und Cholera. Wahrscheinlich aber gab es in der Geschichte keine Gesellschaft, die über so viele Wahloptionen verfügte. Und trotzdem, oder gerade deshalb entscheiden wir sehr leichtfertig. Es ist uns erschreckend egal, was unsere Wahlen für Konsequenzen mit sich führen. Wir entscheiden uns leichtfertig für Dinge, dessen „politisches“ Gewicht wir uns nicht im Klaren sind – vermutlich gerade weil wir zu viele Wahloptionen haben. Warum drücken wir uns vor einer bewussten Wahl? Aus Überforderung? Reden wir uns nicht gerne ein, wir hätten keine Wahl oder nur die Wahl zwischen Gleichem? (mehr dazu später)

2 thoughts on “Die vergessene Demokratie

  1. Die Fragen sind kritisch gestellt und öffnen mir ein grosses Feld an Überlegungen zu Marktsteuerungen aber auch Einflussnahme des Einzelnen in die Maschinerie der Globalisierung.

    Ich mache mir auch moralische Überlegungen zu einem Kauf. Allerdings scheitert eine aufrichtige Entscheidung manchmal aufgrund mangelnder zufriedenstellender Alternativen oder einfach daran, dass ich nicht die Energie habe für jede Entscheidung einen moralischen Diskurs zu führen.
    Man muss ja überall drauf schauen, woher es kommt. Regional finde ich ja auch immer besser, als immer gleich das Geld für das Produkt des Globalplayers auszugeben, da dann immerhin das Geld in der Region bleibt und nicht abwandert.
    Allerdings gibt es auch nicht gute regionale Produkte oder man ist auf ausländisches angewiesen z.B. Computer.

    Ich grossen und ganzen ist es bei uns dennoch relativ transparent. Schlussendlich muss man immer auch auf die Informationen des Herstellers vertrauen, da man schlicht nicht alles selber in Erfahrung bringen kann, das Ganze ist zu komplex. Sich auf Informationen aus dem Internet zu stützen, welches immer mehr auch Informationsblasen bildet und Fehlinformationen nicht filtert, sondern ungehindert weiterverbreitet, ist auch nicht immer empfohlen.

    Ebenso kann man ja gar nicht wissen, dass zum Beispiel die VW-Autos teilweise schlechte Dieselwerte haben, bis zu dem Zeitpunkt wo’s auffliegt. Da ist der Käufer machtlos, egal welche noblen Gedanken er sich gemacht hat. Muss man damit rechnen, dass noch viele solche Fälle zu Tag kommen werden, wo der einzelne keine Chance hat und betrügt wird. Immerhin kann sich da die Gesellschaft in unseren Breitengraden auf den Staat verlassen.

    Ungehindert davon ist aber diese Handels- und Wirtschaftsmaschinerie ständig am laufen. (siehe Dokumentarfilm «Freightened»)

    Man muss also skeptischer bleiben, mitdenken und aktiv entscheiden wollen. Auch soll man flexibel und offen für neues sein.

    Gruss Gregi

    1. Danke für deinen Kommentar! Ich wollte schon lange auf deinen Kommentar antworten, aber ich hatte schon sehr lange einen 2. Text zu genau diesen Gedanken «in der Pipeline» (den Text habe ich gerade jetzt hochgeladen)
      Ich finde es sehr wichtig, dass man das Ganze nicht als «Ersatzreligion» betrachtet, und man nicht zum Ziel hat, alles immer richtig zu machen. Denn, natürlich ist man abhängig von der Berichterstattung, von den Behörden, welche Zertifikate und Messungen durchführen etc. Man wird nie all seinen Ansprüchen gerecht werden können, und das ist auch OK. Ich bin der Meinung, man sollte für seine Handlungen und dessen Auswirkungen die Verantwortung übernehmen, und zwar immer im Horizonte seiner Möglichkeiten. Niemand sollte sich ein schlechtes Gewissen machen, für etwas das er nicht ändern kann, oder für was er nichts dafür kann. Wenn man sich einen VW kauft, ohne zu wissen dass getrixt wurde, kann sich über die vermeintlich höheren Abgaswerte nicht verantwortlich machen. (Trotzdem kann man sich überlegen wie man auf diese Enthüllungen reagieren könnte…)
      Es geht darum aus besseren und schlechteren Alternativen aktiv abzuwägen, dass man beabsichtigt durch seine Wahl einen Unterschied zu machen.

      mfg Simon

      (PS: Ähnlich hat David Richard Precht in Sternstunde Philosophie vom 12.3.2017 zum Thema Fleisch argumentiert, sehr sehenswert.)

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